Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Rezeptionslenkung zwischen Narratologie, kulturellen Konzepten und Rhetorik.
Veranstalter: Friedrich Michael Dimpel und Hans Rudolf Velten
Colloquium am 26./27.9.2014 in Erlangen
Ort: Senatssaal im Schloss (Schlossplatz 4, Erlangen)
Anmeldung und Kontakt: friedrich.m.dimpel@fau.de
Tagungsprogramm
Freitag, 26. 9. 2014
14:00 Ankunft und Kaffeepause
14.30 Friedrich M. Dimpel (Erlangen) u. Hans R. Velten (Siegen)
Begrüßung, Einführung in das Tagungsthema: Sympathiesteuerung in Erzähltexten des Mittelalters
15.00 Claudia Hillebrandt (Jena)
Zur Sympathiebildung und -lenkung in erzählenden und lyrischen Texten. Systematische Überlegungen
16.00 Victoria Gutsche (Erlangen)
Sympathische Fremde? Sympathiesteuerung in frühneuzeitlichen Reiseberichten
17.00–17.30 Kaffeepause
17.30 Regina Toepfer (Frankfurt)
Entscheidung zwischen Vater und Sohn. Sympathiesteuerung im älteren und jüngeren Hildebrandslied
18.30 Harald Haferland (Osnabrück)
Poetische Gerechtigkeit
19:30 Gemeinsames Abendessen
Samstag, 27.9.2014
9.00 Katharina Prinz (Göttingen)
Der exorbitante Held des Nibelungenlieds – eine sympathische Figur?
10.00 Matthias Meyer (Wien)
Wie man zu seinen Protagonisten auf Distanz geht und ihnen dennoch Sympathie verschafft. Heinrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg
11.00–11.30 Kaffeepause
11.30 Gert Hübner (Basel)
Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘
12.30–14.00 Mittagessen
14.00 Hans Rudolf Velten (Siegen)
Satire, Rhetorik und Sympathie – die spöttischen Pfaffen Amis und Kalenberger
15.00 Sebastian Coxon (London)
Hört hie einen klugen list: Zur Rezeptionslenkung und Sympathiesteuerung in spätmittelalterlichen Schwankmären
16.00–16.30 Kaffeepause
16.30 Friedrich Michael Dimpel (Erlangen)
Sympathie trotz ordo-widrigem Handeln? Engagement und Distanz im ‚Fortunatus‘
17.30 Abschlussplenum
Moderation: Sonja Glauch, Christiane Witthöft und Florian Kragl
Exposé
Dass Sympathie für die Hauptfigur und Antipathie für ihren Gegenspieler schon in mittelhochdeutschen Romanen und Heldenepen interessante narrative und rezeptionslenkende Dispositive mit großem Potential sind, scheint weithin evident: so ist im ‚Nibelungenlied‘ Kriemhild im Zeichen der Minnebeziehung zu Siegfried anfangs sympathisch und wird im Verlauf der Zurüstungen ihrer Rache an ihren Brüdern immer unsympathischer, oder Reinhart Fuchs wird im gleichnamigen Tierepos vom überlisteten Schelm zum allumfassenden Zerstörer. Sympathie und Antipathie sind als Wahrnehmungsmodi in Bezug auf Figuren auch in der Forschung festgestellt worden, mit der Einschränkung, dass die theoretischen Grundlagen und Vorannahmen, auf denen Aussagen über Sympathie und Sympathiesteuerung beruhen, häufig nicht transparent wurden.
Die Frage, mit welchen narrativen Mitteln Sympathie und Engagement im Erzählprozess konstituiert werden, bezeichneten Vera und Ansgar Nünning noch 2004 als Desiderat: außer einem 1978 erschienenen Sammelband zur „Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares“ sind erst in den letzten Jahren wieder Bemühungen zu erkennen, das Thema für die Untersuchung von neuzeitlichen und vormodernen Texten fruchtbar zu machen. Mit den Qualifikationsschriften von Verena Barthel und Friedrich Michael Dimpel liegen zwei Studien vor, die neben der Arbeit von Claudia Hillebrandt zu Texten des 20. Jahrhunderts Grundlagenarbeit zum Thema geschaffen haben. Auf der Jenaer Tagung „Sympathie und Literatur“ (Februar 2013, veranstaltet von Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann) wurde das Sympathiekonzept vornehmlich im Feld der neueren deutschen Literatur weiter diskutiert worden.
Im Zentrum der Debatte stehen derzeit narratologische Konzepte, bei denen Sympathiesteuerung als ein Instrument zur Modellierung des Rezeptionsverhaltens betrachtet wird. Dazu tragen zahlreiche Texteigenschaften auf verschiedenen Ebenen bei, so dass Sympathiesteuerung als dynamisch-variables System verstanden werden kann. Interne Fokalisierung ist ein klassisches Mittel zur Sympathiesteuerung; die Wiedergabe von Figureninnenleben ermöglicht es dem Rezipienten, Intentionen, Emotionen und Handlungsgründe nachzuvollziehen. Neben der Figurenkonstellation und der Figurenkonzeption können insbesondere auch Wertungen von Figuren und evaluative Erzähleräußerungen relevant werden, sowie literarische Konventionen von Figuren (bspw. Gattungskonventionen, Kontiguitätsbeziehungen von Figuren und anderen Textelementen, Schönheit und Hässlichkeit, Montagen der Hybridität).
Ebenso wird diskutiert, ob eine Darstellung, die eine Figur bei der Bewältigung von Schwierigkeiten zeigt, eine positive Sympathiesteuerung mit sich bringen kann. Als zentral wird hier die Korrelation von Normen- und Wertesystem und Figurenhandeln gesehen, wobei die zeit- und kulturspezifische Variabilität von Normen und Werten zu berücksichtigen ist: Melusine wird in der Forschungsliteratur heute in der Regel als sympathische Figur bezeichnet – ein Urteil aus einer Zeit, in der die Dämonenangst vor Frauen mit einem Schlangenschwanz keine Rolle mehr spielt, und in welcher selbstbestimmtes Handeln von Frauenfiguren nicht negativ besetzt ist. Zeitgenössische Urteile rücken Melusine dagegen in die Nähe des Teufels.
Was die Verfahren zur Sympathiesteuerung angeht, determiniert deren Realisierung noch nicht den Sympathiestatus einer Figur. Die Frage ist, ob eine disparate Distribution von positiven und negativen Verfahren – je nach Privilegierung im Text – einen Korridor beim Rezipienten eröffnet , innerhalb dessen eine Figur als eher sympathisch oder eher unsympathisch wahrgenommen werden kann. Sympathiesteuerung ist somit vielfach ein Phänomen der Ambivalenz, da die Kopräsenz von positiven und negativen Sympathiesteuerungsverfahren auch in vormodernen Texten eher die Regel als die Ausnahme ist – sowohl beim Protagonisten als auch beim Antagonisten. Gerade dort, wo Techniken der Sympathiesteuerung nicht einsinnig auf schwarz oder weiß festgelegt sind, öffnet sich ein weites Feld für theoretische und analytische Studien. So ist etwa auch die Intensität relevant, mit der ein Rezipient eine entsprechende Zuschreibung einstuft – das Engagement für eine Figur. Eine dezidierte Schwarz-Weiß-Malerei kann zu einer Limitierung des Engagements und zu Distanz führen: Bereits Aristoteles hat dazu geraten, weder Schufte (τοὺς μοχθηροὺς) noch makellose Männer (τοὺς ἐπιεικεῖς ἄνδρας) als Tragödienhelden zu wählen (Poetik 13, 1452b 34-37).
An diesem Punkt setzt die geplante Tagung ein: ihr Ziel ist neben methodischen und theoretischen Klärungen eine Erweiterung, Präzisierung bzw. Erneuerung der Analysemodelle für Techniken der Sympathiesteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Es soll geprüft werden, inwieweit sich das Begriffsfeld auf Texte unterschiedlicher Erzählgattungen anwenden lässt, und welche literaturwissenschaftlichen Felder von einer weitergehenden Erforschung profitieren könnten (Figurentheorie, Poetologie, Rezeptionsforschung, Fiktionstheorie, Autorinszenierung, Wissensforschung, Serialität). Dabei sollen narratologische Zugriffe historisiert und in Studien erprobt werden, doch gleichzeitig streben wir eine Einbeziehung weiterer Theorien an: so können sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze Aufschluss sowohl im Bereich der axiologischen Orientierung von außerliterarischen wie literarischen Handlungsprinzipien sowie über Kontextphänomene geben, die zumindest implizite Wertungen transportieren können.
So wäre zunächst zu fragen, ob nicht außerliterarische Denkmodelle, die um den zentralen Wert ‚Gerechtigkeit‘ kreisen, für einen historisch-narratologischen Zugriff gerade bei Texten des Mittelalters geeignet wären: Etwa der Tun-Ergehen-Zusammenhang sowie das unverschuldete Unglück. Diese textexternen Denkfiguren können den Rezeptionsmodus vor allem bei negativen Handlungsfolgen beeinflussen. Beim Tun-Ergehen-Zusammenhang geht man davon aus, dass gute Taten belohnt und schlechte bestraft werden, beim unverschuldeten Unglück sind Tun und Ergehen entkoppelt (Parzivals Versagen auf der Gralsburg ruft zumindest mit eingeschränktem Blick auf seine Figurenperspektive und seinen Informationsstand die Denkfigur ‚unverschuldetes Unglück‘ auf).
Ein zweites wichtiges Feld für die Rezeptionslenkung ist gerade für vormoderne Texte die Rhetorik: Die Durchformung von Sympathiesteuerungsverfahren durch rhetorische Muster und Prinzipien im Sinne einer persuasiv effizienten Darstellung hat Auswirkungen auf die Effektivität dieser – wie persuasive Potentiale effizient realisiert werden, lehren bereits antike Rhetoriken, und nicht nur auf der Ebene der elocutio. So lässt sich beispielsweise ein positives Figurenverhalten durch die Kontrastierung mit weniger positivem Verhalten konturieren. Mit der Rhetorik steht ein historisches System der Publikumslenkung zur Verfügung, deren „gespeichertes Wissen“ auch dem Mittelalter als Theoriekonzept bekannt war.
Schließlich zeigen Studien aus dem Bereich der Emotionsforschung, wie die Codierung von positiv oder negativ besetzten Gefühlen textintern konfiguriert ist. Die Verbindung des Emotionsausdrucks in den erzählten Welten und der damit einhergehenden Rezeptionssteuerung wäre weiterhin auszuloten, etwa bei der Darstellung der Folgen einer Schädigung oder von Leid – etwa, wenn sie mit visuellen Effekten und Ostentation verbunden ist, sowie allgemein bei axiologisch besetzten Vorgängen. In Zusammenhang damit stehen anthropologische Bedingungen, welche die Situationalität von Texten mitbestimmen: die Zusammensetzung des Publikums nach Stand, Geschlecht und Alter, Reaktionen des Publikums (Lachen, Verlachen, Protest) auf bestimmte Steuerungsverfahren. Unter welchen Umständen – etwa je nach Figurenkonstellation – kann die Darstellung von Scham und Beschämung oder das Verlachen von Angehörigen einer Outgroup sympathielenkende Potentiale entwickeln?
Es ist davon auszugehen, dass manche Sympathiesteuerungsverfahren weniger abhängig von epochen- und kulturspezifischen Gegebenheiten sind als andere – so wird ein bestimmtes Figurenverhalten in axiologischer Hinsicht eher einer Variabilität unterliegen, während ein intern fokalisiertes Erzählen vermutlich in breitem Ausmaß als Sympathiesteuerungsverfahren gelten kann. Auch deshalb erscheint uns eine Öffnung der Tagung von der germanistischen Mediävistik hin zu den Nachbarphilologien und eine Erweiterung der erzähltheoretisch orientierten Beiträge durch rhetorisch-sprachwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Themen und Methoden gewinnbringend.